Der Medien-GAU – größter anzunehmender Unfug

Nachricht aus Japan: „Es brennt wieder Licht im Kontrollraum 3.“ Das ist der Medien-GAU, der „größte anzunehmende Unfug“, den viele Nachrichten heute melden. Anderthalb Wochen ist es her, dass ein unfassbar schweres Erdbeben ein auf die Erdspalte gebautes AKW zerstört hat. Bis in die Hauptnachrichten von Deutschlandradio schafft es diese Meldung. Allein bei den deutschen Online-Medien wird gerade über 200.000 mal nachgeplappert: Licht, ein Licht, ja es brennt ein Licht im Kontrollraum 3! Sagt mal, liebe Kollegen, geht’s noch? Das Hamburger Abendblatt stellt zu dieser Gute-Nachtgeschichte sogar ein Pressefoto aus Tagen vor der Katastrophe*. Alles schick, schlaft schön liebe Leser!

Nachrichten außer Kontrolle. Das war kein Lichtblick für das Mediensystem.

Abgesehen davon, dass das Abendblatt den Kontrollraum gleich in den Reaktor verlegt hat, diese Meldung ist keine Nachricht! Hier die dpa-Vorlage, die bei japanischen Kollegen abgeschrieben wurde, die wiederum eine PR-Meldung des hilflosen Stromkonzerns Tepco wiedergibt.

„Tokio (dpa) – Der Kontrollraum in Reaktor 3 im Atomkraftwerk Fukushima hat wieder Licht. Dieser Schritt erleichtere die Reparaturarbeiten, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf die Betreiberfirma Tepco. Mit gesicherter Stromzufuhr könnte im Kontrollraum auch das Ventilationssytem wieder angestellt werden. Techniker könnten dann auch wichtige Geräte zur Messung der Temperatur in den Reaktoren und den Wasserständen in den Abklingbecken wieder hochfahren.“ (Quelle: n-tv/dpa, 22.3.11)

Für die wahrscheinlich längst tödlich verstrahlten Arbeiter im Kraftwerk ist das sicher eine gute Nachricht, denn sie können den Kontrollraum jetzt gezielt be- und entlüften und so ihre eigene Strahlenbelastung verringern. Aber was bedeutet es für Japan? Hat das irgendeine Relevanz?

Hirnschmalz statt Kernschmelz

Auch Meldungen wie „Es steigt kein Rauch mehr aus Reaktorblock 3“ (stern.de Liveticker, 21.3.11, 11:55) sind Unfug. Sie füllen nur das Vakuum der Reaktorkatastrophe. Wir sehen nicht, wir wissen nicht, wir ahnen nicht, was da wirklich passiert. Liveticker, Laufbänder, Endlosbildschleifen der Nachrichtensender vermitteln ein klares Nichts. Schlau wäre, genau das zu sagen: „Liebe Zuschauer, Hörer und Leser, wir haben keine sinnvollen Informationen aus Japan.“ Aber, dürfen Journalisten das? Ich denke, sie müssen sogar und fordere mehr Hirnschmalz statt Kernschmelz.

Tagelang beschäftigte uns die Frage: Hat es eine oder mehrere Kernschmelzen gegeben oder nicht? Keine Redaktion mit Massenreichweite hat versucht, den Begriff einzuordnen. Was ist eine Kernschmelze? Für den Medienkonsumenten klingt Kernschmelze schlimm, furchtbar atomar. Es ist der zentrale Begriff der weltweiten Tschernophobie. Kernschmelze bezeichnet aber keinen Vorgang im „Atomkern“ sondern im „Reaktorkern“. Die meisten Menschen wissen das aber nicht. Könnte es nicht sogar sein, dass eine Kernschmelze thermonuklear günstiger verläuft als die Verstrahlung der Umwelt durch freiliegende Brennstäbe? Dafür bin ich kein Fachmann, nur jemand, der sich an seinen Physikunterricht und den Energieerhaltungssatz erinnert. Aber die Frage muss gestellt werden. Nur weil das sichtbare Ausmaß geringer scheint als in Tschernobyl, darf Licht im Kontrollraum nicht gefeiert werden wie eine Erlösung.

So kommt Licht in den News-Raum

Fukushima ist keine Natur- sondern eine Ingenieurskatastrophe. Die Folgen der technologischen Arroganz des Menschen gegenüber der Natur sind nicht absehbar. Sie werden uns in jedem Fall noch sehr, sehr lange beschäftigen. Der wahrscheinliche Strahlentod der mutigen Arbeiter, Soldaten und Feuerwehrleute von Fukushima wird es in einigen Monaten bestenfalls auf Seite 3 der Zeitungen schaffen oder sogar hinten unter „Vermischtes“ gedruckt werden. Vom verstrahlten Thunfisch und vergiftetem Reis und Soja werden wir allerdings noch hysterische Schlagzeilen lesen, dass uns das Sushi im Hals stecken bleibt. Auch diesen Meldungen wird das fehlen, was unseren Medien systematisch fehlt: rezipientennahe Einordnung, kritische Distanz und fachliche Klarheit. Damit wäre etwas Licht in den News-Raum zu bringen.

Der Frühlingsanfang ist in Japan ein gesetzlicher Feiertag. Daran musste ich vorgestern denken. Jetzt beginnt die Kirschblütenzeit mit ihren farbenfrohen Festen. Möge die Frühlingszeit den Opfern der beiden Katastrophen die Hoffnung bringen, die sie symbolisiert.

*Anmerkung zum zitierten Pressefoto: Für den Leser ist nicht ersichtlich, von wann diese Aufnahme stammt. Ob sie tatsächlich den Kontrollraum 3 des AKW Fukushima zeigt, ist fraglich. Bei meinen Online-Recherchen habe ich dieses Bild nur beim Hamburger Abendblatt gefunden, was annehmen lässt, dass die Redaktion auf einen zeitlosen Bilderkatalog von Reuters zugegriffen hat. Die Einordnung fehlt. Das ist nicht nur handwerklich schlecht.