In Ribnitz-Damgarten ist am 24. Dezember 2021 ein blinder Mann aus der Bahn geworfen worden. Die Ostseezeitung berichtete. Laut Zeitungsbericht hatte er keinen Corona-Impfnachweis dabei. Es geschah offenbar nicht in voller Fahrt. Es geht folglich um Pflichterfüllung und kein Verbrechen. Ich werde dazu jetzt einen Reichsbahnvergleich anstellen.
Meine Großeltern haben beide bei der Reichsbahn gearbeitet. In den Siebzigern durfte ich Schrankenwärterin Omi Helga helfen und die gewaltige Kurbel selbst bedienen. Ich erinnere mich an den Geruch von reichlich Fett auf den Zahnrädern, das Klicken des Widerhakens und die Glocke im Takt meiner Kurbeldrehungen. Da war ein Gefühl großer Macht. Es ist erstaunlich leicht, zwei riesige Schranken auf einmal herunterzulassen. Alle mussten anhalten – wegen mir! Omi war immer pünktlich, anders als die Züge. Sie tat ihre Pflicht in der Reichsbahn.
Die DDR hatte bis auf das Hakenkreuz so ziemlich alles von der Reichsbahn davor übernommen: Schienen, Lokomotiven, Schrankenwärterhäuschen, sogar die ratternde Personenwaage auf dem Bahnhof in Stendal, wo der Preis noch in Reichspfennig aufgedruckt war. Nach dem Krieg werden sie wohl auch die Nazis noch gebraucht haben, um die vielen Räder in Bewegung zu halten. Ich kann mir vorstellen, dass die Bundesbahn auch so eine Phase hatte.
Heute frage ich mich oft, ob das Vernichtungslager Auschwitz nur möglich war, weil alle ihre Pflicht getan haben. Die Züge mit den vielen Menschen in Viehwaggons kamen aus Berlin, Budapest, Paris. Tausende Weichen, Bahnübergänge, Signale – Reichsbahner. Manchem stockt jetzt vielleicht der Atem. Ob ich den Holocaust relativieren will? Nun, ich vergleiche menschliches Verhalten in drei Bahnepochen.
Ich glaube, der Schaffner von Ribnitz-Damgarten hätte das Richtige tun können: den blinden Passagier ans Ziel bringen. Zumal Heiligabend.
Manchmal hat Omi Helga die Schranke einen Moment länger oben gehalten, weil es jemand eilig hatte. Das war 1974 sicherlich ebenso verboten wie 1933 und 2021.