Altersnaiv? Ein Brief an Helmut Schmidt zum BND

Lieber Helmut Schmidt,

es hat etwas Tröstliches zu erfahren, dass Alter nicht nur Starrsinn mit sich bringt. In der Geheimdienstaffäre zeigen Sie als Herausgeber der ZEIT eine überraschend jugendliche Naivität. Sie raten in Ihrem Artikel zur Gelassenheit und kokettieren mit dem Thema als wäre es eine Menthol-Zigarette – Ihr letztes Privileg im Fernsehstudio. Aber dieses Krebsgeschwür geht uns alle an, denn es vergiftet die Zivilgesellschaft, deren Schutz das Grundgesetz garantieren sollte. Nur, schauen Sie mal hinein, was daraus geworden ist! Es kennt inzwischen so viele Ausnahmen mit denen Bürgerrechte zur „Gefahrenabwehr“ eingeschränkt werden, dass selbst die Eröffnung eines europäischen Guantanamo auf Helgoland kein Rechtsbruch mehr wäre. Geschweige denn das bisschen Mithören und Mitlesen Wand an Wand mit der NSA.

BND, Bundesnachrichtendienst in Berlin
Wer bringt Licht ins Dunkel? Ein einziger mutiger deutscher Edward Snowden könnte den Verrat an der Demokratie beenden. Collage: Priebe/Bildteile von ubiquit23 cc flickr.de

Es ist töricht, nach der Relevanz des Abhörens von Millionen Telefonaten zu fragen. So zuverlässig, wie Google Ihre Zigarettenmarke kennt, Herr Schmidt, so genau können Geheimdienste anhand großer Datenmengen selbst kleinste Bewegungen daran hindern, größer zu werden. Wer das Internet kontrolliert, kontrolliert unsere Gedanken. Er steuert die Themen von der Tagesschau bis zum Zeit-Magazin. Agenda Setting ist längst eine zentrale Funktion von Geheimdiensten. Auch Ihre Journalisten hecheln deren beliebiger Tagesordnung nur noch hinterher. Bei der NATO in Brüssel habe ich sie 1999/2000 kennen gelernt, die PR-Rekruten im Auftrag des US State Departments. In der aktuellen NSA-Affäre, haben die Spin-Doctors ein halbes Jahr gebraucht um das dümmste aller Propaganda-Märchen zu platzieren: Die Kanzlerin wurde abgehört! Sie haben Recht, verehrter Altbundeskanzler, das ist eben keine Überraschung. Wer Kanzler(in) ist, muss damit rechnen. Doch was folgt daraus? Wozu dieses Ablenkungsmanöver mit Merkel in der Opferrolle?

„Nach meinen Erfahrungen im Umgang mit Geheimdiensten möchte ich deshalb vor allem zur Gelassenheit raten.“ Helmut Schmidt, Herausgeber der ZEIT, („Überflüssige Dienste“, Zeit Nr. 45/2013, 31.10.13, S. 2)

Geheimdienste beseitigen gleich drei Dinge auf einmal: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Das kann einen nur hanseatisch kalt lassen, wenn man den Willen nicht mehr aufbringt, etwas daran zu ändern. Dem Zigarettenqualm mussten Sie sich irgendwann ergeben. Tun Sie’s der Demokratie zuliebe bitte nicht im Rauch der Nebelgranaten, mit denen die wahre Gefahr für unsere staatliche Ordnung verschleiert wird.

Beginnen wir in der Geschichte. Tief im Erbgut des BND sitzen nationalsozialistische Gene. Sie haben das gleich 1954 in Pullach richtig erkannt. Die Gründungsgeschichte des Beamtenapparates füllt Bände. Vergleiche Gehlen. Ich spare mir weitere Fußnoten. Es ist eine nette Anekdote, dass Sie sich als Bundeskanzler niemals BND-Berichte vorlegen ließen. Gewusst haben Sie doch trotzdem, was die treiben. In Ihrer ZEIT, also in Ihrer Zeitung stand neulich, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst Seit an Seit mit dem CIA in Afghanistan jene Glaubenskrieger ausgestattet hat, die wir heute Terroristen nennen. Wenn Sie es damals nicht wussten, dann wissen Sie es jetzt. Genau wie die Beihilfe zum Mord im Irak oder die Verstrickung anderer Dienste mit faschistischen Mörderbanden im eigenen Land. Auch hier finde ich beliebig viele Belege im ZEITgeschehen.

Gegen diesen Blutkrebs des Westens hilft nur noch eine Bestrahlung  mit dem grellsten Licht, das eine Demokratie zu bieten hat, medialer Gewalt! Knipsen Sie dieses Licht nicht aus, indem Sie relativieren und beschwichtigen! Sie haben doch nun wirklich nichts mehr zu befürchten, auch nicht aus den geheimen Dossiers, mit denen die Stasi 2.0 noch jede Leiche im Keller eines Politikers hervor gezerrt hat, wenn es ihr gerade passte. Oder selbst welche produzierte. Aber das ist Spekulation mit Badewanne. Es ist im Übrigen ein widerliches Katz- und Mausspiel, wenn Rechtsbruch und Verbrechen mit dem Siegel „geheim“ gedeckt werden und jeder Versuch der Aufklärung als Verschwörungstheorie diffamiert wird. Auch das hat lange Tradition.

„Jedermann weiß, dass die Auslandsgeheimdienste in aller Welt Dinge treiben, die nach dort geltendem Gesetz verboten sind.“ Helmut Schmidt, ebenda

Es ist der größte anzunehmende Unfug, wenn wir glauben, dass NSA, CIA, BND, Militärischer Abschirmdienst MAD oder Verfassungsschutz außerhalb der Gesellschaft agieren. Die Spitzel sind unter uns. Ihre Metastasen haben schon lange auch unsere Redaktionen befallen. Mir sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Koksnasen begegnet, die im Rausch prahlten, für wen sie alles arbeiten. Blättern Sie in Ihren Archiven oder googeln Sie. Sie finden alles. Drogenhandel, Scheinfirmen, illegale Waffenlieferungen, Verschleppung von Menschen, Folter, Konzentrationslager. Sogar massenhaften Mord im Staatsauftrag, wenn nicht im eigenen, dann in dem von Bündnispartnern. Wir stehen dabei Schmiere. Wir wissen das und heucheln uns durch die Talkshows, mit und ohne Zigarette.

Wer die wahren Hebelverhältnisse in diesem Land kennen lernen möchte, dem empfehle ich einen Spaziergang durch Berlin. Von den selbst zahlenmäßig unterlegenen Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages bis zum tumorös verwucherten Bau des BND ist kein weiter Weg. 6.000 willfährige Staat-im-Staatsdiener, die, wie Sie richtig bemerken, unkontrollierbar sind.

Ihre gespielte Gelassenheit ist gefährlich, denn sie ermutigt die Täter. Wer jetzt Zuspruch braucht, sind die Zweifler im System. Statt sich altersnaiv zu stellen, sollten Sie deutsche Whistleblower ermutigen. Gab es in der NSA einen Edward Snowden, so hat auch der BND einen Eduard Schneider oder wen auch immer. Der größte Verrat an unserem Land wäre, dieses System der Machtverschiebung zugunsten der Geheimdienste nicht zu verraten. Verraten Sie uns, was Sie wissen, Herr Schmidt, denn ein Teil der Antwort liegt in Ihrer Zeit, also in Ihrer Abgeordneten- und Regierungszeit!